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Flugblatt DES 2. AKTIONSTAGES
"Wir gründen eine AG für unser Viertel – gegen die Verfestigung der offenen Koffeinszene"
MI 28.02.2001 11h



Ein Viertel kippt!
Gegen die Verfestigung der offenen Koffeinszene
Verlagerung des Gewerbehofs jetzt!


In den vergangenen Jahren wurde der Roten Flora immer wieder vorgeworfen, dass sie die Probleme im Schanzenviertel herunterspielt und jegliche Lösungsvorschläge mit fragwürdigen ideologischen Begründungen ablehnt – kurz: wir wären ja immer gegen alles und würden keine konstruktiven Beiträge für die Lösung von Problemen im Stadtteil leisten. Heute wollen wir zeigen, dass das nicht stimmt und wir uns stattdessen ganz konstruktiv an der Diskussion um die Zukunft des Schanzenviertels beteiligen.
Wir alle kennen die Situation, die seit einigen Jahren immer mehr zum Alltag geworden ist: Schicke Sportwagen parken schräg über unsere Gehwege, so dass Kinderwagen nicht mehr durchkommen. Menschen in Designer-Street-Wear mit Kunstleder-Sporttaschen oder Hornbrillen verstopfen die Straßen, drücken sich in Hauseingängen ihren Milchkaffee rein, lassen benutzte Kaffeetassen dort stehen – direkt zugänglich für unsere Kinder. Jeden Abend wird bis tief in die Nacht vor unseren Häusern und in Bars ohne Scheiben laut gefeiert und die Polizei tut nichts. Überall klingeln ständig Handys, Yuppies lassen benutzte Handys im Sandkasten liegen – mit noch ungeklärten gesundheitlichen Folgen für unsere Kinder. Kurz: Die offene Yuppie- und Koffein-Szene bedroht das subjektive Sicherheitsempfinden von uns allen – wenn nicht sofort gehandelt wird, kippt unser schönes multikulturelles Viertel!

Doch diese Szene war ja nicht schon immer hier. Die Yuppie- und Koffein-Szene bewegt sich gerne im Umfeld von Betrieben der neuen Medien-Branche. Da, wo sich die dort arbeitenden Menschen treffen, um gemeinsam sich selbst zu verwirklichen, da halten sie sich auch außerhalb dieser Tätigkeit auf. Der Gewerbehof im Schulterblatt, wo unzählige dieser Betriebe angesiedelt sind, ist also direkter Anzugspunkt für die Szene. Durch den Gewerbehof sind immer größere Teile der Szene in unser Viertel geströmt.
Wir fragen: Wie kann sich eine solche Einrichtung in einem Viertel befinden, in dem viele Familien mit kleinen Kindern leben – bei all den verheerenden Folgen? Unsere Antwort ist: Gar nicht! Ein Gewerbehof gehört in ein Gewerbegebiet und nicht in ein Wohnviertel, wo Kinder in direkten Kontakt mit der dort arbeitenden Szene kommen.Deshalb haben wir heute konstruktiv die »Arbeitsgruppe zur Verlagerung des Gewerbehofs« gegründet und begonnen, Kriterien für einen neuen Standort des Gewerbehofs festzulegen: z.B. höchstens 100 m Entfernung zum nächsten bewachten Parkplatz und mindestens 500 m Entfernung zum nächsten Spielplatz oder zur nächsten Schule. Gleichzeitig haben wir konstruktive Überlegungen angestellt, welche Einrichtungen sinnvollerweise in das Gebäude einziehen können, wenn die Betriebe der neuen Medien-Branche verlagert worden sind. Nach ausgiebiger Prüfung der Bedürfnisse im Stadtteil haben wir festgestellt, dass ein nicht unerheblicher Teil der Yuppie- und Koffein-Szene mittlerweile schon im Schanzenviertel wohnt und sich deshalb auch durch die Verlagerung des Gewerbehofs nicht sofort umsiedeln wird. Um diesen Teil der Szene von der Straße zu holen, haben wir beschlossen, im Gebäude des Gewerbehofs einen Sozialraum einzurichten. Wir haben deshalb heute dort ein Schild angebracht, mit der Aufschrift:

Nun hoffen wir auf ihre konstruktive Mitarbeit. Unsere Arbeitsgruppe ist offen für alle, die konstruktive Vorschläge für die Verlagerung des Gewerbehofs oder für die Ausgestaltung des neuen Sozial-Raums beitragen wollen.
Das nächste Treffen wird rechtzeitig öffentlich bekannt gemacht.Welchen Sündenbock hätten sie gerne?
Vielleicht sind Sie noch nicht so ganz überzeugt vom Ansatz unserer Arbeitsgruppe.
Vielleicht sehen Sie die Probleme im Viertel woanders, denn Sie stört der Anblick der »Junkies« und der »offenen Drogen-Szene« viel mehr als der der Yuppies und der »offenen Koffein-Szene«. Vielleicht glauben Sie den Geschichten von den Spritzen im Sandkasten eher als denen von den gesundheitsgefährdenden Handys. Vielleicht finden Sie auch, dass die Yuppies doch nicht alle auf dem Gehweg parken - es gibt eben solche und solche – wohingegen die »Junkies« allesamt aggressiv betteln und ihre Spritzen überall liegen lassen.

Alles das würde zeigen, dass Sie ihren Sündenbock gefunden haben – so wie wir unseren. So ein Sündenbock ist ´ne prima Sache, denn alles was einen so nervt, kann dem untergeschoben werden. Und damit man sich wieder gut fühlen kann, kann man dann fordern, dass der Sündenbock weg muss: »Das Boot ist voll!« oder »Das Viertel kippt!« oder »Eine Drogenhilfeeinrichtung passt eben nicht in eine Einkaufsstraße«. Ob abgeschoben als Schwarzafrikaner oder in nächste Viertel vertrieben als Drogen-KonsumentIn – hinterher haben sich die Probleme zwar auch nicht gelöst, aber solange man einen Sündenbock hat, weiß man zumindest, dass man selbst unschuldig ist.
Wichtig ist aber auch, dass man nicht nur einen Sündenbock hat, sondern auch einen Ort, der ein sogenannter »Anziehungspunkt« für den Sündenbock sein soll, und von dem man dann fordern kann, dass er woanders hin soll:

Seit über einem Jahr fordert die Gewerbetreibenden-Lobby »Standpunkt.Schanze«, dass der Fixstern aus dem Schulterblatt verschwinden soll, da »das Schulterblatt eine Einkaufsstraße ist, und da passt eine Drogenhilfeeinrichtung einfach nicht rein.«
An dieser Argumentation haben wir uns orientiert und wir finden, unser »Anziehungspunkt« kann mit dem von »Standpunkt.Schanze« durchaus mithalten.
Wenn dann solch ein »Anziehungspunkt« gefunden ist, kann eine »AG« gegründet werden oder ein »Runder Tisch« wird einberufen – denn das zuvor in die Welt gebrachte Problem muss ja jetzt gelöst werden. Und in dem Moment kommt die STEG ins Spiel: Die STEG ist von der Stadt nicht zuletzt gegründet worden, um die Aufwertungs- und Umstrukturierungspläne der Stadt den AnwohnerInnen so gut wie möglich zu verkaufen - damit nicht wieder wie vor zehn Jahren ein halber Stadtteil dagegen Widerstand leistet und leerstehende Theater-Ruinen besetzt. Dazu muss der Eindruck erweckt werden, dass »alle zusammen an einem Tisch sitzen« und alle mitreden dürfen. Und weil »AG´s« und »Runde Tische«, die die Drogenszene zum Problem erklären, so prima mit den Aufwertungsinteressen der Stadt zusammenpassen, werden solche »AG´s« und »Runde Tische« von der STEG gefördert oder initiiert. Die STEG sagt das natürlich nicht, weil sie doch eigentlich ganz neutral ist, nur die Moderation macht und doch nur will, dass sich die Leute im Stadtteil einbringen können. Da wir das ja auch wollen, sind wir mit unserer AG auch gleich zur STEG gegangen. Und weil die Leute der STEG das alles glauben, und nicht glauben, dass die »Runden Tische« eh nichts zu sagen haben und sie nur ruhig stellen sollen, funktioniert das auch, und alle finden, dass sie sich mal so richtig engagiert und eingemischt haben – Zivilcourage ist ja schließlich voll im Trend. Nur die Rote Flora musste natürlich immer wieder die Spielverderberin machen, wenn sie in ihren Pamphleten diese Form der Zivilcourage öffentlich denunziert und bis jetzt nie bei solchen Inszenierungen mitgespielt hat.

Wenn Sie jetzt verstanden haben, wie das Spiel gespielt wird, dann werden Sie sicher erkennen, dass wir bei unserer AG-Gründung die wichtigste Regel missachtet haben: Gute Sündenböcke sind vor allem diejenigen, die erstens eh nicht viel zu sagen haben und sich deshalb auch nicht gegen ihr Dasein als Sündenbock wehren können und zweitens in die Pläne der Stadt für das Viertel nicht hineinpassen. Und da bieten sich die Werbe-Yuppies, die für die Stadt den Medien-Standort sichern sollen, eben gar nicht an. Die »Junkies« und »schwarzen Dealer« sind dagegen wunderbare Kandidaten: Die einen haben meist kein Dach über dem Kopf, die anderen oft keinen Ausweis. Und beide stören das Bild vom aufstrebenden, attraktiven Schanzenviertel - wie im Übrigen auch eine Rote Flora, die als politisches Zentrum in den vergangenen Jahren immer wieder nicht nur gegen die herrschende Drogenpolitik Partei ergriffen hat.

Hier wird jetzt klar, dass nur unsere AG ein Spiel ist. Dagegen sind die Auswirkungen der Initiativen, die gegen die Drogenszene hetzen, ganz real: die tagtägliche Vertreibung der meist obdachlosen Drogen-UserInnen von einer Straße in die nächste und die täglichen rassistischen Polizeikontrollen gegen Menschen schwarzer Hautfarbe und deren mögliche Abschiebung sind kein Spiel, sondern eine Praxis die nicht selten zum Tod führt. Das Elend von so vielen DrogenkonsumentInnen ist in erster Linie Resultat der staatlichen und städtischen Drogen-Verbots-Politik. Solange nicht das Elend dieser Menschen als Problem betrachtet wird, sondern ihre Anwesenheit und sie noch weiter ausgegrenzt, an den Rand gedrängt und vertrieben werden, solange werden wir uns weiter einmischen.
Die Diskussion über die »offene Drogenszene« ist dabei nur ein besonders eklatantes Beispiel für die Entwicklung im Schanzenviertel. Im »Zukunftsviertel Schanze«, wie es die STEG mittlerweile nennt, heißt es immer häufiger »No Future« für diejenigen, die nicht den schicken Regeln der allgemeinen Aufwertungseuphorie entsprechen und damit schlechte Laune machen. Dass sich die Flora in ein solches Zukunftsviertel immer noch nicht eingemeinden lassen will, keine Verträge unterschreibt und sich nicht auf ein »alternatives« Kulturangebot zurechtstutzt, macht offenbar schlechte Laune - bei der CDU, die gleich draufhauen will, bei der SPD, die befrieden will, bei der STEG, die ja mal gerne drüber reden würde - und das ist schließlich die beste Rolle, die man im harmonischen Zusammenspiel von Aufwertung und Vertreibung einnehmen kann.